Die Geschichte von Zerlegerin und Zerstörerin
Es heißt, dass im Gewebe der Welt zwei Schwestern wohnen. Die eine nennt man Zerlegerin. Wo sie geht, zerfällt das Alte – Blätter werden zu Humus, Knochen zu Staub, Häuser zu Erinnerungen. Doch sie arbeitet mit Geduld und Achtung. Sie ordnet, sie sortiert, sie gibt zurück. Aus ihren Händen entstehen neue Samen, Nahrung für das Kommende. Sie ist die stille Gärtnerin des Wandels.
Die andere heißt Zerstörerin. Auch sie löst auf, doch ihr Tun ist hastig, blind und taub. Sie reißt, ohne zu hören, ob etwas bereit ist zu gehen. Sie bricht, ohne zu fragen, ob das, was sie trifft, noch gebraucht wird. Wo sie wirkt, bleibt ein Müllhaufen zurück, ein Geschwür, das nicht in den Kreislauf zurückfindet.
Und so singen die beiden Schwestern zwei verschiedene Lieder:
Das Lied der Zerlegerin klingt wie ein Komposthaufen im Frühling – warm, lebendig, voller neuer Möglichkeiten.
Das Lied der Zerstörerin klingt wie ein Riss im Gewebe, ein Ton, der nicht mitschwingt, sondern alles andere verstimmt.
Die Alten sagen: Beide Kräfte sind Teil der Welt. Doch es liegt an uns, welcher Schwester wir Nahrung geben. Denn die, die wir füttern, wird stärker – und ihr Lied wird lauter im großen Chor des Lebens.
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Wie eine Gesellschaft aussieht, die bewusst die Zerlegerin nährt und die Zerstörerin verhungern lässt:
Die Gesellschaft der Zerlegerin
In dieser Gesellschaft weiß man: Alles Alte darf gehen – aber nicht als Müll, sondern als Samen. Häuser, die zerfallen, werden nicht zu Ruinen, sondern zu Steinbrüchen für Neues. Ideen, die ausgedient haben, werden nicht verteufelt, sondern in ihre Bausteine zerlegt, damit daraus neue Gedanken wachsen können.
Die Menschen haben gelernt, dass Ordnung im Abbau der Schlüssel ist. Sie sortieren nicht nur Dinge, sondern auch Konflikte: Was ist bloß Schutt, was ist Rohstoff? So werden selbst Streit und Missverständnisse zu Dünger für tiefere Verständigung.
Die Zerstörerin hat hier keinen Platz, weil man ihr keine Nahrung gibt. Niemand füttert sie mit Ignoranz, mit dem Negieren von Bedürfnissen, mit Gewalt gegen das, was noch leben will. Wo sie auftaucht, verhallt ihr Lied, weil niemand mitsingt.
Stattdessen klingt überall das Lied der Zerlegerin:
- In Schulen, wo Fehler nicht bestraft, sondern als Rohstoff für Lernen genutzt werden.
- In der Politik, wo alte Strukturen nicht verteidigt oder zerschlagen, sondern in neue Formen überführt werden.
- In Beziehungen, wo Trennungen nicht als Bruch, sondern als Übergang verstanden werden, der Raum für Neues schafft.
Und so lebt diese Gesellschaft wie ein Wald: voller Vielfalt, voller Resonanz, voller Kreisläufe. Nichts wird verschwendet, nichts wird verneint – alles wird verwandelt.
Es ist eine Kultur, die nicht auf „Recht haben“ oder „Ausmerzen“ baut, sondern auf Verwandlung. Eine Gesellschaft, die gelernt hat, dass selbst das Ende ein Anfang sein kann, wenn man es in den Kreislauf zurückführt.